22. Januar 2022

Gauck-Rede: Neue soziologische Steißgeburt

Quelle: jungefreiheit.de

Offizielles Porträt von Bundespräsident Joachim Gauck. Foto: bundespraesident.de

von Thorsten Hinz

Am Ende von Fellinis Casanova-Film sucht der alt gewordene Haudegen, der auf Schloß Dux sein Gnadenbrot erhält, noch einmal den großen Auftritt. Mit Pathos und ausladender Gestik deklamiert er einen Text, mit dem er in früheren Zeiten, die noch die „galanten“ hießen, die Frauen beeindruckt hatte. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Französische Revolution hat die Welt auf den Kopf gestellt. Das Publikum starrt ungläubig auf den Rezitator, der sich müht, den eigenen Mythos am Leben zu halten. Die einen schwanken zwischen Mitleid und Fremdscham, andere brechen in Gelächter aus.

Je länger und je öfter Bundespräsident Joachim Gauck ans Mikrofon tritt, umso mehr läuft er Gefahr, bei vielen Bürgern, vielleicht sogar bei der schweigenden Mehrheit, ganz ähnliche Empfindungen hervorzurufen, wobei allerdings Ärger an die Stelle der Erheiterung tritt. Die Gefahr vergrößert sich noch, wenn er um Aktualität und um konzeptionellen Anspruch bemüht ist wie jetzt in der Rede über Zuwanderung.

Es ist ja völlig richtig, daß das Staatsoberhaupt sich diesem drängenden Thema widmet, seine Sicht der Dinge und seine Zukunftsvorstellungen darlegt. Richtig ist auch, daß die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft mehr sein muß als eine bürokratische Nebensächlichkeit. Deswegen war es eine gute Idee, am Vorabend des Verfassungstages eine Einbürgerungsfeier im Amtssitz Schloß Bellevue zu veranstalten. Die Frage ist nur, welche Signale bei dieser Gelegenheit ausgesendet wurden. [Weiterlesen]