20. Oktober 2021

Vom Glauben entfernt

Quelle: jungefreiheit.de

von Gernot Facius

Eine Fotomontage im Internet zeigt einen leeren Stuhl, darauf ein geöffnetes rotes Kuvert: „Sehr geehrter Herr Luther! Sie sind nicht eingeladen.“ Das Bild spiegelt die ganze liebe Not des deutschen Protestantismus mit dem Reformator. Es mag polemisch klingen, aber Martin Luther hätte es heute schwer, zu einem Evangelischen Kirchentag eingeladen zu werden.

Nicht nur wegen seiner antijüdischen Tiraden, von denen sich die EKD vor zwei Jahren in aller Form distanziert hat. Vermutlich würde man ihm auch seine deftigen Worte wider den Islam („eine schändliche Ketzerei“) ankreiden. Und wahrscheinlich würde er gar nicht kommen, sondern nach einem Blick in das 576 Seiten dicke Programmheft, das 2.500 Veranstaltungen annonciert, den selbstgefälligen, in den interreligiösen Dialog vernarrten Theologen und Funktionären ordentlich die Leviten lesen.

Dispute über Genderfragen und Veganismus

Die Themenliste reicht von Gottesdiensten, politischen Podien, Konzerten, Bibelkreisen, Debatten über Lügen in der digitalen Gesellschaft, Dispute über Genderfragen und Veganismus bis zu, man staune, täglichen Gesprächen über das Flirten und der Auseinandersetzung mit der Frage, ob auch Marsmenschen Erlösung brauchen.

Zum ersten Mal werden während des Christentreffens im „heidnischen“ Berlin, wo darüber gestritten wird, ob die Kuppel des wiederaufgebauten Schlosses in der Stadtmitte wieder ein Kreuz tragen darf, auch gleichgeschlechtliche Paare „getraut“. Und es gibt wieder Veranstaltungen unter dem Regenbogen.

Verbaler Rundumschlag gegen Evangelikale

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au kann, wie sie in diversen Interviews zu Protokoll gab, in homosexuellen oder lesbischen Liebesbeziehungen keine Sünde sehen. „Ich kann aber in vielen heterosexuellen Beziehungen ganz viel sehen, was nicht Gottes Willen entspricht.“

Das ist, wenn man so will, ein verbaler Rundumschlag gegen die Evangelikalen, auch wenn die Präsidentin beteuert, daß die gegenseitige Akzeptanz gewachsen sei und man von unterschiedlichen Bibelauslegungen profitiere. Es ist richtig: Der evangelikale „Christustag“ ist in den Kirchentag integriert. Aber sind damit schon alle Barrieren abgebaut? Die Frage kennt noch keine Antwort.

Mit Obama kommt der „Glamour“

Mit dem amerikanischen Ex-Präsidenten Barack Obama, einem Mitglied der freikirchlichen United Church of Christ, kommt an Christi Himmelfahrt der „Glamour“ ans Brandenburger Tor. Durch Obama, der mit der Bundeskanzlerin diskutieren soll, wird der Kirchentag unter dem etwas verquasten Leitwort „Du siehst mich“ auch für die Boulevardmedien interessant.

„Wird Obama über Wasser gehen?“ frage amüsiert die Zeit. Mit „Engagierte Demokratie gestalten: Zu Hause und in der Welt Verantwortung übernehmen“ ist der Obama-Merkel-Auftritt überschrieben.

Kein Vertrauen in eigene Überzeugungskraft

Das Christentreffen in der Bundeshauptstadt und in Wittenberg legt eben Wert darauf, politisch zu sein – in der Auslegung des Kirchentagspräsidiums. Der ZDF-Mann Peter Hahne hingegen hält den Verantwortlichen in der EKD „parasitäre Publizität“ vor. Obama sei ein „abgehalfterter Messias“.

Starker Tobak von einem ehemaligen Synodalen. Im übrigen, so Hahne, träume man vom friedlichen Dialog der Religionen, habe aber das Vertrauen in die Überzeugungskraft des Christentums verloren.

Streitpunkt Umgang mit der AfD

Vor allem streitet man munter über die richtige Auslegung der Bibel. Ist sie Buchstabe für Buchstabe Gottes Wort? Nein, betont die „Religionsbotschafterin“ Margot Käßmann, ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, die Bibel sei kein Frage-Antwort-Buch. „Sie ist ein Buch, das gedolmetscht und interpretiert werden muß.“ Dafür bekommt sie viel Zustimmung.

Manches kommt vor dem Doppelereignis von Berlin und der Lutherstadt sehr verdruckst daher: zum Beispiel der Umgang mit der Alternative für Deutschland. Nach längeren internen Debatten wurde Anette Schultner als Sprecherin der Bundesvereinigung „Christen in der AfD“ eingeladen.

Märtyrerrolle der AfD verhindern

Ihr werden gleich „zwei argumentativ starke Gegenpositionen“ gegenüberstehen, verteidigte sich Aus der Au. Gemeint sind die Journalistin Liane Bednarz und der Berliner Bischof Markus Dröge. Beide haben sich als schroffe Gegner der noch jungen Partei zu erkennen gegeben.

Wie das „Zugeständnis“ an die AfD-Dame seitens der Kirchentagsleitung gedeutet wird, legte Frau Aus der Au im EKD-Magazin Chrismon dar: „Wenn man AfD-Vertreter gar nicht einlädt, geraten sie in eine Märtyrerrolle. Wie in den Medien.“ Man vertraue auf die Gesprächskultur des Kirchentages. Kritische Auseinandersetzung ja, „Bashing“ nein – das wäre billig und eines Christen unwürdig.

Mit der Linkspartei keine Berührungsängste

Also, man wird sehen, ob und wie das Versprechen eingelöst wird. Geht es um die Partei Die Linke, so hat der Kirchentag wenig Berührungsängste. Aus der Au hält sogar eine „Dialog-Bibelarbeit“ (was für eine Wortschöpfung) mit dem Berliner Linken-Spitzenpolitiker Klaus Lederer, einem Atheisten.

Die Frage ist nur zu berechtigt: was ist evangelisch am Evangelischen Kirchentag 2017? Es mag banal klingen, aber im Zentrum des christlichen Glaubens steht eben der Glaube – nicht das Räsonieren über die beste Sozial-, Wirtschafts-, Asyl- und Friedensordnung: dazu fehlt es diesem „Event“ an Kompetenz.

Mit Luthers „Sola fide“ (allein aus Glauben) begann die Reformation. Das ist etwas anderes als der – gewiß gutgemeinte – Versuch, Christsein durch soziales Handeln zu bestimmen. Der Siegener Theologe Christian Schwark faßte das in einem Beitrag für das evangelikale Magazin idea spektrum in einem Satz zusammen: „Fair gehandelten Kaffee zu kaufen, macht noch keinen guten Christen.“

JF 22/17