20. Mai 2022

Europa im Testfall

Roland Kirsch. Foto: privat

von Roland Kirsch

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben einen Nachbarn mit einem großen Garten. Eines Tages beschließt er, eine große Gartenparty zu veranstalten. Jeder wird eingeladen und Werbung wird auf dem Lokalsender ausgestrahlt.

Und die Leute kommen, immer mehr, solange, bis keiner mehr in den Garten hineinpasst. Jetzt klingelt der Nachbar bei Ihnen und anderen Nachbarn mit der Bitte, einen Teil der Gäste aufzunehmen. Manche sind nicht begeistert von der Idee, doch der Nachbar erinnert sie mit Nachdruck an ihre Pflicht zur Solidarität. Derweil kommen noch immer mehr Gäste, sodass der Gastgeber die Polizei nötigt, die Straße abzusperren, um den Zugang für weitere Gäste zu verhindern.

Eine ziemlich unwahrscheinliche Geschichte? Genauer betrachtet ist sie es nicht. Man ersetze Garten durch „Land“ und Straße durch „Grenze“. Dann wird die Geschichte ganz real. Es ist genau das, was im Augenblick in Deutschland abläuft.

Eine eigenartige Geschichte ist es, die da abläuft. Der Gastgeber Deutschland hat, ohne sich mit seinen Nachbarn, d.h. mit den andern EU Mitgliedsländern, abzustimmen, die Werbetrommel ganz kräftig im Nahen Osten gerührt; in Video-Botschaften hat Deutschland die Vorteile des Lebens in der „Bunten Republik“ den Menschen um die Ohren gehauen, nicht nur den Flüchtlingen, sondern jedem, der es hören wollte. Nicht mal mit den politischen Verantwortlichen in den eigenen Ländern hat „Mutti“ das abgesprochen. Die Menschen wurden eingeladen, ohne irgendwelche Formalitäten, in den Schengen-Raum einzudringen. Ein einzelner Staat hat de facto die Erlaubnis ausgestellt, die Dublin-Kriterien zu umgehen: die Illegalität wurde durch Merkelsches Edikt sozusagen legalisiert.

Ungarn hielt sich an EU-Recht und schloss seine Grenzen Richtung Deutschland, um – gemäß der Dubliner Richtlinien – die Flüchtlinge zu registrieren. Doch die Flüchtlinge drängten weiter ohne Registrierung, die sie daran gehindert hätte, das „gelobte“ Land zu erreichen. Die Verurteilung aus Deutschland folgte auf dem Fuße. Paradoxerweise wurde Österreich von den gleichen Deutschen kritisiert, als es seine Grenzen Richtung Deutschland sperrangelweit öffnete, dabei aber geflissentlich übersah, dass die deutschen Grenzen Richtung Schweden genauso offen standen. Das hat wiederum Dänemark veranlasst, seine Südgrenzen Richtung Norden zu schließen, was allerdings nicht das Wohlwollen Deutschlands gefunden hat.

Man wird den Verdacht nicht abschütteln können: Deutschland versucht, das Ruder in Sachen Flüchtlingspolitik fest in der Hand zu halten und alle anderen sollen die deutsche Melodie pfeifen. Es scheint den deutschen Verantwortlichen egal zu sein, dass, wenn sie alle Türen für Flüchtlinge weit aufreißen, sie damit nicht nur beweisen, dass sie nicht mehr ganz dicht sind, sondern auch noch bereit sind, alles aufzunehmen, was sich zur Aufnahme präsentiert. Viele von denen, die das Aufenthaltsrecht einfordern, stehen ohne Papiere da oder legen gefälschte syrische Pässe vor. Beispiel: Ein holländischer Journalist konnte sich innerhalb von 40 Stunden per Internet einen syrischen Pass mit dem Bild des holländischen Premiers und seinem Wunschnamen ausstellen lassen. Schätzungsweise kommen 25 Prozent von ihnen aus Nordafrika und erwarten sich als Kriegsflüchtlinge eine bevorzugte Behandlung. Nach Dublin II sollte für sie eigentlich nur eine bevorzugte Abschiebung angesagt sein. Aber was zählt in der augenblicklichen Lage schon so ein Fetzen Papier, wenn es der eigenen gutmenschlichen Ideologie entgegensteht. Und so sind, nach Aussagen von IS, derweil 4000 Dschihadisten unbehelligt mit eingeschleust worden und lachen sich ins Fäustchen über die blöden Kāfir (Ungläubigen). Da wird mit der ganzen Kraft des Geheimdienstes und Hundertschaften von Grenzpolizisten das Einreisen von „Gotteskriegern“ auf den großen Flughäfen verhindert, derweil diese unbemerkt über den Landweg einziehen und sich problemlos der Registrierung entziehen.

Zu welchen Denkphantasmen die aktuelle, unkontrollierbare Situation führen kann, zeigen die Überlegungen im Zusammenhang mit der rezenten Sitzung der Innen- und Außenminister der EU. Der luxemburgische Premier Bettel, hat eine „Neutralisierung“ der Ausgaben im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise angeregt. Damit könnte man verhindern, dass die Maastricht-Kriterien überschritten werden. Tatkräftig wurde er dabei unterstützt von seinem Vorgänger und aktuellen EU-Kommissionspräsident Juncker, der sich bemühte, die anderen Ländervertreter von dieser epochalen Idee zu überzeugen. Da wird Etikettenschwindel im Namen der „political correctness“ betrieben. Wenn ich mehr Geld ausgebe wie ich besitze, dann verschulde ich mich. Niemand von uns kann irgendeine Schuld „neutralisieren“, auch wenn das Geld noch so edelmütig eingesetzt worden ist. Und wenn die Flüchtlingskrise gelöst ist – wenn das je einmal der Fall sein wird – dann bleibt eine große Schuld zurück. Diese Schuld muss beglichen werden, ob sie neutralisiert ist oder nicht. Ob dann nicht Deutschland zu einem Griechenland II geworden ist, das wird uns die Geschichte lehren.

Der Außenminister Luxemburgs hat in diesen Tagen in einem Interview folgende Aussage getroffen: “Dublin ist nicht tot, wir dürfen Dublin nicht über Bord werfen, bevor wir einen neuen Mechanismus haben. Wir dürfen aber auch das Schengen-Abkommen nicht aufs Spiel setzen. Zeitlich begrenzte Ausnahmen müssen unter bestimmten Bedingungen möglich sein, aber wir dürfen nicht am Prinzip rütteln. Schengen stellt die größte Errungenschaft der Union dar.” Sein Optimismus ist bewundernswert! “Dublin” wird ignoriert und “Schengen” liegt im Koma und wird nur noch künstlich am Leben erhalten. Das föderale Europa entpuppt sich als Luftnummer; wenn es darauf ankommt, schaut jedes Land zuerst nach seinen Interessen. Es ist an der Zeit, dass unsere Europa-Politiker und Politologen aufhören zu träumen und beginnen genießbare Brötchen zu backen. Tragt die Verträge von Maastricht und Dublin zu Grabe! Europa kann nur dann als Union bestehen, wenn Kriterien einstimmig festgelegt werden und Bedingungen für Krisenfälle vorsehen (in den letzten Jahren hatten wir ja schon ausreichende Fälle, um daraus zu lernen) sowie auch Austritte aus der Union regeln. Wenn alle Staaten gleich behandelt werden und in dem Sinne gleiche Wichtigkeit erlangen – Wichtigkeit soll nicht gemessen werden am Bruttosozialprodukt, Bevölkerungszahl, Landesgröße usw. – dann hat Europa noch eine Chance.


Der Autor ist nationaler Pastor in Luxemburg, war 32 Jahre Hochschullehrer für Elektrotechnik und von 1999 bis 2013 Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Luxemburg.