28. Mai 2022

Sterbehilfe: Darf man über den eigenen Tod bestimmen?

Quelle: idea.de

Foto: Gerd Altmann/pixelio.de

Nach der Klage eines 69-jährigen Witwers aus Braunschweig im Streit über ein mögliches Recht auf Sterbehilfe in Deutschland beschränkt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf eine formale Beanstandung. Die EKD bleibt bei ihrer ablehnenden Haltung.

Straßburg/Hannover (idea) – Gehört es zu den Menschenrechten, selbst zu bestimmen, wann man aus dem Leben scheiden will? Darf es der Staat erlauben, dass ein selbsttötungswilliger schwerstkranker Mensch sich die nötigen Arzneien besorgt oder dass Angehörige sie ihm verschaffen? Das Für und Wider aktiver Sterbehilfe wird in zahlreichen Ländern Europas diskutiert. In Deutschland ist sie verboten, aber etwa in der Schweiz, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg erlaubt. Der französische Staatspräsident Francois Hollande hat eine nationale Debatte darüber angeregt. Die Kirchen bleiben aus ethischen und geistlichen Gründen bei ihrem Nein. Das bekräftigte für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) der Vizepräsident ihres Kirchenamtes, Friedrich Hauschildt (Hannover), in einer Stellungnahme zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Straßburg) vom 19. Juli.

Menschenrechtsgerichtshof rügt deutsche Gerichte

Dort hatte der 69-jährige Witwer Ulrich Koch (Braunschweig) Beschwerde gegen Entscheidungen deutscher Gerichte eingelegt, die seiner nach einem Unfall schwerstbehinderten Frau die Genehmigung verweigert hatten, sich eine tödliche Dosis Schlafmittel zu beschaffen. Im Jahr 2005 setzte die Frau mit Hilfe der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas ihrem Leben ein Ende. Der Witwer argumentierte, Deutschland habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, die das Privatleben schütze; dazu gehöre das Recht, selbstbestimmt zu sterben. Auch seine eigenen Rechte seien verletzt, weil er mit seiner Frau gelitten habe und die letzte beschwerliche Reise in die Schweiz organisieren musste. Die Straßburger Richter nahmen nicht inhaltlich zur Sterbehilfe Stellung, beanstandeten aber, dass die deutschen Gerichte den Fall nicht ausreichend geprüft hätten. Deutschland müsse dem Kläger 2.500 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 26.736 Euro für die entstanden Kosten zahlen.

EKD-Vizepräsident: Menschen mit Sterbewunsch begleiten

Hauschildt erklärte zu der Gerichtsentscheidung, die EKD sei grundsätzlich dem Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde verpflichtet. Das gelte besonders in Grenzsituationen, in denen Sterbende, Angehörige und das medizinische Personal schwierigen Fragen ausgesetzt seien, die einer Klärung bedürfen. Dazu hätten die hätten die Straßburger Richter die deutschen Gerichte aufgefordert. Aus christlicher Sicht sei die Würde der Sterbenden zu achten, die Unverfügbarkeit des Lebens anderer Menschen zu wahren, zum Leben Mut zu machen und beim Sterben zu begleiten. Deshalb stünden Aktivitäten, die die Absicht verzweifelter und leidender Menschen unterstützen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, im Widerspruch zu christlicher Ethik. Allerdings müssten Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit angesichts von Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Leiden und Sterben ernstgenommen und Menschen mit Sterbewunsch angemessen begleitet werden.

Bei Gott gibt es kein aussichtsloses Leiden

Aus christlicher Sicht komme eine Selbsttötung der Absage an die Hoffnung gleich, dass der Mensch im Vertrauen auf Gottes Hilfe jede Lebenssituation annehmen und bestehen könne, „weil es kein aussichtsloses menschliches Leiden gibt“. Dennoch gebe es verzweifelte Lebenslagen, die einen Menschen zu einem solchen letzten Schritt führen könnten. Hauschildt: „Ein Christ kann eine Selbsttötung im Letzten nicht verstehen – aber er kann dem, der so handelt, seinen Respekt nicht versagen.“

Mentalitätswechsel im ärztlichen Handeln befürchtet

Trotzdem sei aus der Forderung nach einer ärztlichen Mitwirkung bei der Selbsttötung aus mehreren Gründen entschieden entgegenzutreten. So könne die ärztliche Suizidbeihilfe zu einem Mentalitätswechsel im ärztlichen Handeln führen. Sie könne auch die Schwelle, die suizidgefährdete Personen durch die gesellschaftliche Tabuisierung der Selbsttötung überwinden müssen, deutlich herabsetzen. Ferner bestehe die Gefahr, dass Druck auf Ärzte und Patienten ausgeübt werde, sich für diesen Weg zu entscheiden. Es sei auch nur schwer festzustellen, wann ein Suizidwunsch freiverantwortlich und ernsthaft bedacht sei und wann er einer depressiven Verstimmung oder einer vorübergehenden seelischen Krise entspringe. Die EKD hoffe, dass die deutschen Gerichte bei der weiteren Befassung mit diesem Thema diese Argumente angemessen berücksichtigen.