27. September 2021

Pietismus: „Gnadauer“ Präses gegen „Kulturpessimismus“

Quelle: idea.de

Der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Michael Diener: Distanz zwischen pietistischem Glauben und Gesellschaft wächst. Foto: idea/kairospress

Gunzenhausen (idea) – Vor einem „Kulturpessimismus“ unter Pietisten, der gesellschaftliche Entwicklungen nur negativ wahrnehme, hat der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes (Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften), Michael Diener (Kassel), gewarnt.

Er nehme eine wachsende Distanz zwischen pietistischem Glauben und der heutigen Gesellschaft wahr, sagte der Theologe in seinem Bericht auf der Mitgliederversammlung der pietistischen Dachorganisation. Sie tagt vom 16. bis 18. Februar im Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe in Gunzenhausen (Mittelfranken). Er vermute, dass sich die Frustration vieler Pietisten leicht verbinde „mit eher rückwärtsgewandten Gesellschaftsbildern“, die zwar christlich-pietistisch „angestrichen“ würden, sich aber nicht biblisch-theologisch begründen ließen. Diener – er ist auch Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz – verwies auf Erfahrungen, die er in pietistischen Kreisen mache. So habe er nach einem Vortrag, bei dem er die Besucher ermuntert habe, auf Muslime offen und liebevoll zuzugehen, von einem älteren Herrn zu hören bekommen: „Herr Präses, ihre Liebe zu den Muslimen geht mir zu weit! Setzen Sie sich mehr gegen Abtreibung ein, dann brauchen wir die ganzen Ausländer nicht.“ Mit ähnlichen Äußerungen sei er wiederholt konfrontiert worden, so Diener. Er fragte in diesem Zusammenhang: „Könnte es sein, dass viele unserer Mitglieder, gerade in der älteren Generation, noch einem relativ geschlossenen Gesellschaftsbild des christlichen Abendlandes verhaftet sind, das es so – eindeutig – nicht mehr gibt und das sie am liebsten wieder herstellen würden?“

Die pluralistische Gesellschaft bejahen

Der Präses stellte Thesen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Gemeinschaftsbewegung auf. Darin fordert er Pietisten dazu auf, die offene und pluralistische Gesellschaft zu bejahen. Dazu gehöre, sich an den demokratischen Prozessen zu beteiligen und das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit wahrzunehmen. Pietisten sollten dies auch dann tun, wenn ihre am Wort Gottes orientierten Positionen nicht mehr mehrheitsfähig seien. Diener: „Wir wünschen uns eine Gesellschaft, die die Gebote achtet und können doch nur dafür werben.“

Kein Platz für Nationalismus

Das Ja zu einer offenen Gesellschaft bedeute auch: „Nationalistisches, teilweise auch rassistisches Gedankengut darf in der Gemeinschaftsbewegung keine Heimat haben.“ Deutschland wären laut Diener manche Kulturkämpfe erspart geblieben, wenn die politisch Verantwortlichen schon früher erkannt hätten, dass eine gesteuerte Zuwanderung von Ausländern notwendig sei, um die Gesellschaft fortzuentwickeln und den Wohlstand zu erhalten. Nach Ansicht Dieners gibt es keinen Auftrag zur Verteidigung des christlichen Abendlandes: „Aber es gibt die bleibende Verpflichtung, unsere christlichen Überzeugungen glaubhaft zu leben und zu vertreten.“

Gegen Taufe ohne Kirchenmitgliedschaft

Diener nahm ferner zum Selbstverständnis der Gemeinschaften Stellung. Bei ihnen handele es sich um Gemeinden im neutestamentlichen Sinn. Zugleich betonte er die „Platzanweisung“ der Gemeinschaftsbewegung innerhalb der evangelischen Kirche. Diener wandte sich dagegen, dass manche Gemeinschaften Taufen durchführen, die nicht im Rahmen von Vereinbarungen mit den Landeskirchen vollzogen würden. Diese Taufen führten nicht zur Mitgliedschaft in der Kirche, sondern nur in einer Gemeinschaft oder einem Gemeinschaftsverband.

Worin besteht die Mitte „Gnadaus“?

In der Aussprache zu dem Bericht ging es unter anderem um die Stellung der Gemeinschaftsbewegung zur Kirche. Der Vorsitzende des Oberbergischen Gemeinschaftsverbandes, Frank Wenigenrath (Wehnrath), unterstützte den innerkirchlichen Kurs: „Wenn wir uns aus der Kirche zurückziehen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn dort der Pietismus nicht mehr vorkommt.“ Der Inspektor des Ohofer Gemeinschaftsverbandes, Rainer Keupp (Wolfsburg), bezeichnete sich als „tief verwurzelten Freund unserer Kirche“. Gleichwohl könne die gemeinsame Mitte „Gnadaus“ nicht nur in einer innerkirchlichen Grundhaltung bestehen. Dazu zähle auch die Leidenschaft, Gemeinschaft zu leben und zum christlichen Glauben einzuladen. Keupp ist auch Präses des Bundes evangelischer Gemeinschaften, zu dem sieben Gemeinschaftsverbände innerhalb des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes gehören. Der Vorsitzende des Westfälischen Gemeinschaftsverbandes, Pfarrer Dirk Scheuermann (Velbert), charakterisierte die Mitglieder von Gemeinschaften als „freiheitsliebend“. Wenn sich die Kirche wie ein guter Trainer verhielte, würde sie ihnen deshalb mehr Freiräume gewähren. Die Gemeinschaften sollten geistlich innovativ und loyal sein, so Scheuermann im Blick auf das Verhältnis zur Kirche.

Auf die geistliche Lebendigkeit kommt es an

Der Inspektor des Landeskirchlichen Gemeinschaftsverbandes Bayern, Konrad Flämig (Puschendorf), wies darauf hin, dass sich junge Christen nicht für die institutionelle Seite von Gemeinden oder Gemeinschaften interessierten. Viel entscheidender sei für sie die Frage, ob in ihnen geistliche Lebendigkeit herrsche. Vor allem darum sollten sich Gemeinschaften bemühen. Der Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband repräsentiert rund 200.000 Christen. Die Dachorganisation umfasst 91 regionale Gemeinschaftsverbände, Diakonissen-Mutterhäuser, Ausbildungsstätten, Missionsgesellschaften, Jugendverbände und sonstige Werke.

Lesen Sie den kompletten Bericht des Präses: „Lasst uns Neues wagen! Theologische Begründungen und Impulse zu den Themenfeldern „geistliches Leben“, „Gemeindeverständnis“ und „gesellschaftliche Verantwortung“ in der Gemeinschaftsbewegung