28. Mai 2022

Roland Jahn: Die friedliche Revolution kam nicht „aus der Kirche“

Quelle: idea.de

Roland Jahn: Stolpe hat mit dem SED-Politbüro gekungelt. Foto: idea/Bannach

Berlin (idea) – Die friedliche Revolution 1989 in der DDR kam nicht „aus der Kirche“. Diese Auffassung vertritt der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn (Berlin), in einem Interview mit der Evangelischen Nachrichtenagentur idea zum Tag des Mauerfalls am 9. November vor 22 Jahren. Jahn zufolge ist das SED-Regime nicht mit Kerzen und Gebeten gestürzt worden, sondern durch die politischen Forderungen und „machtvollen Demonstrationen der Bürger auf der Straße mit ihren politischen Forderungen“.

Die evangelische Kirche sei sowohl ein Hort des Widerstands als auch eine Stütze des Staates gewesen: „Die Kirche hat den Raum gegeben, damit sich Menschen austauschen, aber sie hat die Menschen gleichzeitig diszipliniert, damit sie mit ihren Forderungen an den Staat nicht zu weit gehen. Dieser Doppelrolle muss sich die Kirche bewusst werden.“ So seien Organisatoren der Montagsgebete in Leipzig 1988/89 von der Kirchenleitung „weggedrückt und zensiert“ worden.

Stolpe hat „mit dem SED-Politbüro gekungelt“

Kritik übte Jahn am ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD). Dieser habe noch 1989 in seiner Funktion als evangelischer Konsistorialpräsident in Ost-Berlin erklärt, die DDR brauche keine neuen Strukturen. Zwar habe Stolpe viele Verdienste für die Arbeit der Opposition. Trotzdem stelle sich die Frage, ob es immer im Interesse der Betroffenen gewesen sei, wenn er über deren Köpfe hinweg mit dem Staat verhandelt habe. So habe Stolpe „mit dem SED-Politbüro gekungelt, um eine Pressekonferenz zu verhindern, in der über die Übergriffe durch Staatssicherheit und Polizei gegen Demonstranten im Oktober 1989 berichtet werden sollte.“ Offensichtlich habe Stolpe konspirativ mit der Stasi geredet. „Jedenfalls hat der Berliner Bischof Gottfried Forck (1923-1996) erklärt, dass er als Dienstherr von Stolpes Gesprächen mit der Stasi nichts wusste“, so Jahn. Zudem habe Stolpe es in seiner Zeit als Ministerpräsident des Landes Brandenburg versäumt, für transparente Verhältnisse zu sorgen. Während seiner Amtszeit habe das dortige Innenministerium Stasi-Karrieren ermöglicht, „obwohl belastende Unterlagen aus unserer Behörde längst vorlagen. Die Stasi-Dokumente wurden in kleinen Kungelrunden ausgewertet, anstatt damit eine öffentliche Diskussion zu führen“. Erst lange nach der Amtszeit Stolpes als Ministerpräsident sei in Brandenburg 2010 eine Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur eingesetzt worden.

Zweite Chance für frühere Stasi-Mitarbeiter

Jahn sprach sich dafür aus, ehemaligen Stasi-Mitarbeitern eine zweite Chance zu geben. Die Voraussetzung dafür sei aber, „dass die Karten auf den Tisch kommen“. Denn Aufklärung sei die Grundlage für Versöhnung. Jahn: „Das christliche Gebot, barmherzig zu sein, führt über den bitteren Weg der Erkenntnis. Ein Täter, der Vergebung erfahren will, muss sich zu seinen Taten bekennen und auf die Opfer zugehen. Die meisten Täter wollen jedoch einfach zur Tagesordnung übergehen. Eine zweite Chance ohne Einsicht kann es jedoch nicht geben.“