25. Januar 2022

Die Sehnsucht nach Ritualen wächst

Quelle: idea.de

Rituale bringen Ordnung in das Durcheinander meines Inneren wie auch in das Chaos dieser Welt. Foto: Flickr/prakhar

Kassel (idea) – Rituale erleben eine Renaissance: Während feste Formen und Regeln in der Gesellschaft – auch im Protestantismus – lange als überholt und verstaubt angesehen wurden, ist in jüngster Zeit eine wachsende Sehnsucht nach ihnen spürbar.
 

Über diese Beobachtung berichten Theologen in der in Kassel erscheinenden Zeitschrift des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes (Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften). „In den letzten Jahren empfinden zunehmend mehr Menschen den Verlust an Ritualen als Verarmung“, schreibt der Leiter des Geistlichen Zentrums Kloster Bursfelde, Pastor Klaus Dettke (Hannoversch Münden). In der Sehnsucht nach Ritualen drücke sich der Wunsch aus, Übergänge des Lebens angemessen zu gestalten. So erfreuten sich Gottesdienste für Schulanfänger zunehmender Beliebtheit. Vielen Eltern sei es wichtig, dass ihre Kinder zu Beginn der Schulzeit gesegnet und dem Schutz Gottes anvertraut werden. Manager gingen ins Kloster und entdeckten „den heilsamen Rhythmus von Tagzeitengebeten“. Sie spürten, „wie wichtig die bewusst gestaltete Pause, die Unterbrechung der Arbeit ist“.

Beziehung zu Christus braucht ein Ritual

Dettke zufolge bringen Rituale „Ordnung in das Durcheinander meines Inneren wie auch in das Chaos dieser Welt“. Er empfiehlt Christen, sich an feste Gebetszeiten zu halten und zum Beispiel am Morgen oder Abend einen Psalm zu beten. „Unsere Beziehung zu Christus braucht ein Ritual, das wiederholbar, verlässlich und zugleich persönlich ist“, so Dettke. Er schildert ferner ein Silvester-Ritual, das er mit seiner Familie entwickelt hat: eine Erinnerungsstunde. „Alle sitzen um einen Tisch. In der Mitte brennt ein Kerze, Symbol für das Licht der Welt, Jesus Christus. An einem Tischende steht ein Korb mit verschieden großen Kieselsteinen und an dem anderen ein Korb mit Teelichtern. Für Schönes im vergangenen Jahr wird ein Teelicht entzündet, für Schweres ein Stein gelegt.“ So könne man Dank oder Klage ausdrücken, wenn das Formulieren von Worten schwer falle.

Geländer des Glaubens

Die Kulturbeauftragte des Rates der EKD, Petra Bahr (Berlin), schreibt, schon Martin Luther (1483-1546) habe die Liturgie und die Regelmäßigkeit religiöser Rituale aus gutem Grund geschätzt. Sie seien Geländer des Glaubens. Bahr: „Wer sich jeden Morgen mit Gott zum Beten verabredet, dem geht diese Geste in Fleisch und Blut über.“ Die Pfarrerin unterstreicht zugleich die Bedeutung des Tischgebets. Eine Mahlzeit in der Familie oder mit Freunden beginne anders, wenn ein gemeinsames Gebet angestimmt werde. Für Kinder seien Einschlaffrituale von großer Bedeutung: „Eine Geschichte, ein Lied, ein Gebet, am liebsten immer haargenau das gleiche. Dann noch ein Kuss, erst Papa dann Mama, und das Kind kann getröstet den Weg in die unbekannte Nacht wagen.“

Rituale entlasten

Der Theologieprofessor Manfred Seitz (Bubenreuth bei Erlangen) vertritt in einem weiteren Beitrag die Ansicht, dass Rituale einen entlastenden Charakter hätten. Sie seien wiederholbare Handlungen, die man nicht ständig neu erfinden müsse, und eine Hilfe, sich gegenüber den „heiligen Dingen“ zu benehmen. Rituale könnten aber nur dann als hilfreich für das tägliche und gottesdienstliche Leben empfunden werden, „wenn sie für die Gemeinschaft, in der sie stattfinden, durch Wort, Gespräch und Verkündigung verständlich und einsichtig sind“.