23. Oktober 2021

„Ich entkam dem Todesblock im Ochsenstall“ (Teil II)

Quelle: jungefreiheit.de

Enthüllung der Gedenktafel an die Opfer von Postelberg vergangenen Juni

Mitte Mai sorgte die TV-Dokumentation „Töten auf tschechische Art“ über die Ermordung Hunderter deutscher Zivilisten im nordböhmischen Postelberg im Frühsommer 1945 für Aufsehen. Kurt Hantl überlebte damals das Massaker. Nach 65 Jahren bricht er sein Schweigen. Teil II. (> Teil I)

Mit zwei weiteren Männern bildeten wir eine Gruppe von jüngeren Insassen, alle anderen Männer waren wesentlich älter. Durch meine lange Abwesenheit von Saaz (Praktikum in Mittweida, Studium in Berlin) kannte ich nur wenige der Anwesenden persönlich.

Plötzlich wurden wir auf Befehl in den daneben liegenden Ochsenstall buchstäblich

Autor Klaus Hantl

hineingepreßt, wir standen dicht gedrängt, Mann an Mann. Das Tor wurde verschlossen und eine schlimme Nacht und ein böser Tag folgten. Die Fenster des Stalles waren alle mit Holzsichtblenden zugeschlagen und so stellte sich langsam Sauerstoffnot ein. Die ersten älteren oder kranken Männer sackten zusammen und blieben zwischen den Stehenden geklemmt. Ein Opernsänger mit Namen Raul Ruzizka, der etwas von Atemtechnik verstand, machte mit uns Atemübungen, sonst wären wir fast erstickt.

Am nächsten Morgen durften wir die Toten aus dem Stall entfernen. Dadurch entstand etwas mehr Platz. Für die Notdurft stand im Stall ein großes Faß, das aber schon voll war, als wir hinkamen. Also machte jeder unter sich. Von den Vorgängen im Kasernenhof bekamen wir nur wenig mit, Gebrüll, Jammerlaute und Schüsse hörten wir zwar, erfuhren aber erst später, was sich im Hof ereignet hatte.

Kinder vor den Augen ihrer Väter erschossen

Es war die Erschießung von fünf Jugendlichen, alle im Alter von 14 bis 15 Jahren, die wegen angeblichen Fluchtversuches von den Wachen mit Knüppeln unmenschlich geschlagen wurden. Dann wurden die Väter geholt, und sie mußten zusehen, wie ihre Kinder an der Garagenwand der Kaserne erschossen wurden. Auch sagten uns Augenzeugen aus der Gruppe der Wehrmacht, daß ein Hauptmann namens Langer, der von Kommandant Marek die Behandlung der Wehrmacht als Kriegsgefangene verlangt hatte, erschossen wurde.

So wie mir berichtet wurde, ging Hauptmann Langer aus der Wehrmachtskolonne auf Marek zu und sagte ihm seine Bitte. Daraufhin schickte Marek ihn zurück zur Kolonne, und als er ihm den Rücken kehrte, schoß ihm Marek in die Knie, so daß er nach vorne auf die Hände fiel. Darauf ging Marek an ihm vorbei und gab ihm einen Genickschuß. Er rief: „So geht es allen, die sich beschweren wollen.“

Im Laufe des vierten Tages wurde das Rufen nach Wasser immer lauter. Die Posten brachten zu unserem Stall einen Eimer mit Wasser. Wir noch aktiven Jungen waren der Ansicht, dieses Wasser sollte in erster Linie den Zusammengebrochenen gegeben werden, um sie zu retten. Als der Eimer in den Stall gereicht wurde, entstand aber zur Freude der Posten ein wüster Kampf um das Wasser, erwachsene Männer benahmen sich aus Durst wie Verrückte.

„Da habt ihr was zu saufen“

Als wir Jungen dann endlich den Eimer in der Hand hatten, war nur noch wenig Wasser für die Halbtoten im Eimer. Das meiste Wasser war im Kampf darum verschüttet worden. Die Posten, die lachend dem Drama zugesehen hatten, meldeten dies und dann kam Kommandant Marek und gab einen Befehl. Soldaten bildeten eine Gasse zum nächsten Stall. Dann wurden wir mit Peitschen und Knüppeln in den neuen Stall getrieben.

Vor mir verlor ein Mann einen Schuh und durch das Aufheben bekamen einige, darunter auch ich, mehr Prügel mit Kabeln und Knüppeln als andere Opfer. Der neue Stall war größer, aber der Boden war voll Mist, denn es waren vorher Ochsen im Stall gewesen. Auf diesen Mist ließ Marek ungefähr zehn Zentimeter hoch Wasser laufen und sagte hämisch grinsend: „Da habt ihr was zu saufen.“

So standen wir nun im Jauchewasser und konnten natürlich nichts trinken. Wir setzten uns dann auf den Jaucheboden, denn bereits beim Aufstehen wurde mir durch den Wasserverlust schon sehr schwindlig. Nachdem wir wußten, daß das Wasser auf dem Stallboden irgendwo hergekommen sein mußte, klopften wir die Stallwände ab und suchten nach Leitungen in der Wand. Jedoch ohne Erfolg.

Tagsüber wurden immer wieder Männer namentlich aus dem Stall geholt und kamen meistens nicht wieder. Auf einen Mann, beruflich ein Brunnenbauer, hatten es die Posten besonders abgesehen. Er wurde immer wieder geholt und mußte den vor dem Stall befindlichen Misthaufen immer wieder auf eine andere Stelle versetzen. Wenn er aus Erschöpfung nicht weiterkonnte, wurde er geprügelt. Im Laufe des Tages gab es dann tatsächlich Wasser aus dem Brunnen und je 16 Mann bekamen ein Kilo Brot. Da wir keine Messer hatten, war das Teilen ein echtes Problem.

Bemerken konnte ich, wie diszipliniert die SS-Männer waren, die im Stall daneben eingesperrt waren. Sie standen bei der Wasserausgabe in einer Reihe und warteten diszipliniert, bis sie dran waren. Nicht so bei uns im Ochsenstall, hier kämpften Menschen mit dem Rest ihrer Kräfte wie Verrückte um einen Schluck Wasser. Wie lange wir eingesperrt waren, kann ich heute nicht mehr sagen, jedes Zeitgefühl hatte ich verloren. Plötzlich hieß es: SA, Politische Leiter, NS-Funktionäre und Kapitalisten heraustreten.

Als dies erfolgt war, waren wir nur noch zu dritt im Stall, denn wir waren schließlich Wehrmachtsangehörige. Durch Ritzen in der Stalltüre sah ich, daß viele Männer im Hof angetreten waren. Sie standen in Viererreihen, wobei jeweils der Außenmann den linken oder rechten Arm auf die Schulter des Vordermannes legen mußte. Sie marschierten ab und niemand hat sie jemals wieder gesehen.

Beinahe alle Mitgefangenen endeten im Massengrab

Heute weiß man, daß allein diese 763 Personen ein Massaker erwartete, da einer dieser Männer bei der Erschießung durch Maschinengewehre sich im ausgehobenen Massengrab totstellte und in der Nacht fliehen konnte. In den folgenden Nächten konnte dieser Überlebende trotz eines Lungensteckschusses tatsächlich die sowjetische Besatzungszone in Sachsen erreichen.

Nach einiger Zeit kamen zu uns verbliebenen drei Mann im Stall zwei junge tschechische Posten der Wachmannschaft. Einer rief „Hantl mit Gepäck sofort mitkommen“, und so nahm ich meinen Hut und folgte den beiden. Sie führten mich dann in den nächsten Nebenraum, in dem vorher die SS-Männer gewesen waren und forderten mich auf, sofort mein Hemd auszuziehen. Dann mußte ich die Arme heben und sie untersuchten mich auf eine Tätowierung der Blutgruppe unter den Armen.

So waren alle Angehörigen der SS aus medizinischen Gründen gekennzeichnet. Das Gleiche suchten sie auch hinter beiden Ohren. Als sie keine Tätowierung fanden, fragten sie mich: „Warst du wirklich nicht bei der SS?“ Als Beweis erzählte ich ihnen, daß ich erst vor einigen Tagen aus dem Saazer Gefängnis entlassen worden war, weil meine Mutter belegen konnte, daß ich nur bei der Wehrmacht war. Schließlich sagten sie: „Setz dich zur Wehrmachtskolonne.“

Fast ein Wunder

Wie ich später erfuhr, hatte mich mein Stiefbruder zuvor erkannt. Er sagte dies einem Postelberger, der sich mit ihm in der Wehrmachtskolonne befand. Dieser Postelberger wiederum kannte einen der tschechischen Posten persönlich und sagte ihm, daß ich als Wehrmachtsangehöriger doch nicht in den Todesblock gehöre. Durch dieses Ereignis – für mich fast ein Wunder – entkam ich dem Todesblock im Ochsenstall.

Am nächsten Tag wurden wir wieder in einer Kolonne von Postelberg zurück nach Saaz geführt und in das sogenannte „Schießhauslager“ (Arbeitslager) gebracht. Sofort ging ich dort zum deutschen Lagerleiter (ehemaliger Offizier der tschechoslowakischen Armee) und meldete ihm den Verbleib meiner zwei Mitgefangenen, die ebenfalls Wehrmachtsangehörige waren, in der Postelberger Kaserne. Etwas später trafen sie dann tatsächlich ebenfalls im Lager Schießhaus in Saaz ein.

Kurt Hantl wurde 1924 in Saaz geboren und diente seit 1942 als Funker in der Wehrmacht. Er wurde 1946 aus seiner sudentendeutschen Heimat vertrieben und lebt heute bei Augsburg.