30. Juni 2022

DDR-Zeitzeugen: Den Wert der Freiheit erkennen

Quelle: idea.de

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (links) im Gespräch mit Jugendlichen: Ein Wunder, dass 1989 kein Schuss fiel. Foto: idea/Ottmar

München (idea) – Eine größere Wertschätzung der freiheitlichen Demokratie wünschen sich Zeitzeugen der DDR-Diktatur. Bei einer Podiumsdiskussion am 15. Mai auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in München sprachen sich mehrere Teilnehmer dafür aus, die Erinnerung an das SED-Unrechtsregime wachzuhalten.
 

„Sie müssen ein Gefühl für die Kostbarkeit von Freiheit entwickeln“, sagte etwa Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) zu den über 100 meist jugendlichen Zuhörern. Es sei für ihn ein Wunder, dass 1989, als zehntausende DDR-Bürger nach den Montagsgebeten zum friedlichen Protest auf die Straße gingen, kein Schuss fiel. Er habe nicht anders gekonnt, als sich anzuschließen. Anderenfalls hätte er sich später vor seinen Kindern schämen müssen, sagte Thierse. Zur Freiheit zähle, sich politisch zu engagieren. Er habe zwar schon in jungen Jahren politisches Interesse gehabt, wollte damals aber nicht in eine der SED-Blockparteien eintreten. Erst als sich 1989 die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) gründete, sei er aktiv geworden. Bereits wenige Monate nach seinem Eintritt wurde er zum Vorsitzenden gewählt. Nach der Vereinigung mit der (westdeutschen) SPD wurde Thierse einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Wie der 66-Jährige sagte, wünsche er sich von der heutigen Jugend eine „politische Leidenschaft“. Es reiche nicht, über „die da oben“ zu jammern und zu schimpfen. Wichtig sei es, sich selbst einzubringen.

Freiheit verteidigen

Die ehemalige Bürgerrechtlerin und heutige Stasi-Beauftragte von Brandenburg, Ulrike Poppe (Potsdam), vertrat die Auffassung, dass die Freiheit immer wieder neu verteidigt werden müsse. Deshalb sei es wichtig, dass künftige Generationen erfahren, was eine Diktatur ist und welchen Wert die Freiheit hat. Der Diakon und frühere Jugendwart der sächsischen Landeskirche in Marienberg, Eberhard Heiße (Sonnewalde/Brandenburg), berichtete von seinem Engagement in der evangelischen Jugendarbeit. Man habe sich nicht als Opposition zum Staat begriffen, sondern den Menschen etwas geben wollen, was sie woanders nicht bekommen konnten. „Eine ganze Menge junger Leute fand bei uns zuhause zum Glauben an Jesus Christus“, berichtete der 76-Jährige. Wegen seiner Aktivitäten wurde Heiße von der Stasi genau beobachtet. Zwei seiner fünf Kinder verbrachten wegen „Staatsverleumdung“ bzw. „Republikflucht“ einige Zeit in DDR-Gefängnissen.

Ein Mann vergab seinem Stasi-Spitzel

Nach der Wiedervereinigung bekam Heiße Einblick in seine über 4.000 Seiten dicke Stasi-Akte. Mit zwei der darin benannten Stasi-Spitzeln – seinem Ortspfarrer und einem Kirchenältesten – habe er sich nicht mehr aussprechen können, da beide vor der Einsichtnahme gestorben waren, berichtete er. Der Kirchenälteste hatte sich am 23. Dezember 1989 – kurz nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November – erhängt. Ein anderer Stasi-Spitzel sei selbst auf Heiße zugekommen und habe ihn um Entschuldigung gebeten. „Ich konnte ihm im Namen Jesu vergeben.“

Größte Gefahr für Demokratie kommt nicht von links oder rechts

Der evangelische Diakon und Bundestagsabgeordnete Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen) warnte in der Diskussion vor einer zunehmenden Politikverdrossenheit. Die größte Gefahr für die Demokratie komme derzeit nicht aus der links- oder rechtsextremistischen Ecke, sondern von dem wachsenden Eindruck der Bevölkerung, dass die Politik gegen die Mächtigen der Wirtschaft und Finanzwelt nichts ausrichten könnten. Hoppe hatte Anfang der achtziger Jahre eine Frau aus der DDR geheiratet. Beide waren 1984 abgeschoben worden. Später engagierte er sich in der DDR-Bürgerbewegung „Bündnis 90“, die sich 1991 mit der Partei „Die Grünen“ zusammenschloss.