29. Januar 2022

Einsamkeit – Preis der postmodernen Vielfalt

Quelle: gemeindenetzwerk.org

Foto: PR

„Autonomie”, „Dynamik”, und „Vielfalt” lauten die Zauberwörter, wenn im öffentlichen Diskurs von Partnerschaft und Familie die Rede ist. Neue Formen des Zusammenlebens seien Ausdruck eines veränderten Partnerschaftsideals, das stärker auf Autonomie setze. Daraus folge aber keine Abkehr von der Familie: In „modernisierten” Formen bleibe sie erhalten und verliere nichts von ihrer Bedeutung. Diese „Erzählung” ist besonders in Feuilletons populär, hält aber einer empirischen Prüfung nicht stand. Ernüchternd deutlich zeigen neue Mikrozensus-Zahlen eine steigende „Familienlosigkeit”: Auf dem Rückzug sind nicht nur die Ehe und die „traditionelle” Kernfamilie, sondern das Zusammenleben mit Partnern und Kindern generell (1). Der Singularisierungstrend betrifft vor allem die Männer: Etwa 45% der Männer im Alter von 40-45 Jahren lebten 2011 ohne Kinder im Haushalt; bei den gleichaltrigen Frauen lag dieser Anteil „nur” bei 28%. Vor fünfzehn Jahren (1996) war es unter den Frauen dieses Alters ca. ein Fünftel und bei den Männern knapp ein Drittel, die ohne Kinder im Haushalt lebten (2). Schon in den 1990er Jahren war also die „Kinderlosigkeit” unter Männern höher als unter Frauen, seitdem hat sich diese Differenz aber noch wesentlich vergrößert.

Wie lässt sich dieses wachsende „Gender Gap” erklären? Eine wesentliche Ursache dafür ist der Männerüberschuss auf dem Partnerschaftsmarkt: Da mehr Jungen als Mädchen zur Welt kommen, gibt es bis zur Altersgruppe der 50-Jährigen immer mehr Männer als Frauen. Gleichzeitig verbinden sich Frauen meist mit etwas älteren Männern – im Durchschnitt sind sie in Partnerschaften etwa drei Jahre jünger. Der Geburtenrückgang seit den 1960er Jahren führt nun dazu, dass jeder Männerjahrgang auf eine zahlenmäßig kleinere Kohorte partnerschaftlich noch nicht gebundener Frauen trifft. Von diesem „birth-squeeze-Effekt” waren die 40-45-jährigen Männer im Jahr 1996 noch nicht betroffen: In den 1950er Jahren geboren, stießen sie dank des Baby-Booms Ende der 1950er Jahre auf eine wachsende Zahl (potentieller) Partnerinnen. Für die nach dem „Pillenknick” geborenen Männer haben sich dagegen die Heiratschancen verschlechtert (3). Dieser „marriage squeeze” ist ein Grund für den sprunghaft gestiegenen Anteil der Männer, die nicht nur ohne Kinder, sondern auch ohne Partnerin leben: Zwischen 1996 und 2011 ist er unter den 40-45-Jährigen von unter 19% auf 31% gestiegen. Eine Tendenz zum Singledasein gibt es zwar auch bei den Frauen; im Vergleich zu den Männern leben sie aber wesentlich seltener ganz allein (14%). Dafür lebt aber fast jede achte Frau als Alleinerziehende, während nur etwa jeder 50. Mann ohne Partnerin aber mit Kind(ern) lebt (4). Neben dem Frauenmangel erklärt also die Zunahme alleinerziehender Mütter, warum immer mehr Männer ohne Frau und Kind(er) leben.

Entspricht das Leben als Single den Wünschen dieser Männer? Viele dieser Männer dürften ihr Alleinleben nicht als Ausdruck von Autonomie und Selbstentfaltung, sondern als unglückliches Schicksal erfahren. Vergleichbares gilt für Single-Frauen und auch für Alleinerziehende: Ein-Eltern-Familien sind höchst selten geplant, sondern entstehen fast immer aus dem Zerbrechen von Beziehungen (5). Trennungen beruhen zunächst auf individuellen Entscheidungen, für die bestimmte Personen verantwortlich sind. Anhänger der lebenslangen Ehe verurteilen Scheidungen deshalb nicht selten als moralisches Versagen, während Fürsprecher einer „seriellen Monogamie” dazu neigen, Trennungen als Ausdruck des Selbstentfaltungsstrebens zu beschönigen (6). Beide Sichtweisen unterschätzen den Einfluss des sozialen Rahmens („Framings”) auf die Partnerschaftsstabilität: Die Übereinstimmung in Fragen des Lebensstils, der Religion und der Politik spielen eine wesentliche Rolle, ob Paare sich finden und zusammen bleiben (7). Je heterogener die Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es für den Einzelnen einen passenden Partner zu finden. Die postmoderne „Vielfalt” der Lebensentwürfe hat deshalb einen hohen Preis, den besonders die unfreiwillig allein Lebenden und die alleinerziehenden Mütter bezahlen. Eben dies blenden die gängigen Feuilleton-Diskurse gerne aus. Denn wie schon Bert Brecht wusste: „Die im Dunkeln sieht man nicht”.

(1) Exemplarisch für diese Sichtweise: Bernhard Gückel: Gibt es eine Krise der Familie? Eine Lebensform im Spannungsfeld zwischen Wandel und Konstanz. Prof. Dr. Norbert F. Schneider zur Situation der Institution Familie bei der Dritten Tendenzwendekonferenz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 17. November2011 inBerlin, im Interview in der Sendung „Kulturgespräche” des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR 2) am 23. Dezember 2011 und im Beitrag „Geld allein ist keine Lösung” der Publikation „The European” vom 10. Januar 2012, S. 10-11, in: Bevölkerungsforschung Aktuell 01/2012, S. 10-11.

(2) Vgl.: Abbildungen „Frauen: Rückgang von Ehe und Kernfamilie”; „Männer: Abkehr von Ehe und Familie?”.

(3) Vgl.: Kerstin Ruckdeschel/Robert Naderi: Fertilität von Männern, S. 2-9, in: Bevölkerungsforschung aktuell, Mitteilungen aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 30. Jahrgang, November 2009, S. 4.

(4) Vgl.: Abbildungen „Frauen: Rückgang von Ehe und Kernfamilie”; „Männer: Abkehr von Ehe und Familie?”.

(5) Vgl.: Walter Bien/Alois Weidacher: Familien in prekären Lebenslagen – zur politischen Relevanz der Untersuchungsergebnisse. Zusammenfassung und Ausblick, in: S. 229-242, in: Walter Bien/Alois Weidacher (Hrsg.): Leben neben der Wohlstandsgesellschaft. Familien in prekären Lebenslagen, S. 239.

(6) Beispielhaft für letzteres sei auf den 7. Familienbericht verwiesen: Nach seiner Auskunft ist die serielle Monogamie Ausdruck einer wachsenden individuellen Freiheit und des Wunsches, „unbefriedigende Verbindungen aufzugeben und nach besseren Perspektiven zu suchen”. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik – Siebter Familienbericht, Berlin 2006, S. 126.

(7) Vgl.: Hartmut Esser: In guten wie in schlechten Tagen, Ehekrisen, Untreue und der Anstieg der Scheidungsraten – Eine Ursachenanalyse

Quelle: IDAF Nachricht der Wochen 44-45 / 2012

Quelle: IDAF Nachricht der Wochen 44-45 / 2012