26. Juli 2021

„Jahrhunderterkrankung“ Demenz: Was tun?

Quelle: idea.de

Deutscher Ethikrat diskutiert über Umgang mit Demenz-Kranken. Foto: pixelio/geralt

Hamburg (idea) – Über den Umgang mit der „Jahrhunderterkrankung“ Demenz diskutierte der Deutsche Ethikrat bei einer öffentlichen Tagung am 24. November in Hamburg.
 

In Deutschland leiden etwa eine Million Menschen unter dem Verfall der geistigen Leistungsfähigkeit. Prognosen zufolge könnten bis 2030 bis zu 1,7 Millionen Menschen betroffen sein. Dem Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Michael Wunder (Hamburg), zufolge dürfe man die Krankheit zwar nicht verharmlosen, man solle sie in ihrer Dramatik aber auch nicht überhöhen. Selbst Menschen mit fortgeschrittener Demenz verfügten noch über „Teilautonomie“ und könnten ihr Leben selbst gestalten. Ziel müsse es sein, eine „demenzfreundliche“ Gesellschaft zu fördern.

Warum familiäre Pflege abnimmt

Die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, die frühere Bundesministerin Prof. Ursula Lehr (Bonn), verwies auf Prognosen, wonach sich die Zahl der Pflegeplätze bis 2050 auf vier Millionen verdoppeln wird. Zugleich nehme die familiäre Pflege ab, weil inzwischen jede dritte Frau kinderlos bleibe. Lehr: „Früher gab es auf Familienfotos ein Großelternpaar, umgeben von einer Schar von Enkeln. Heute gibt es oft ein Enkelkind, umgeben von einer Schar von Großeltern und Urgroßeltern.“ Weitere Gründe für die abnehmende Pflege in der Familie seien die höhere Mobilität, so dass Kinder nicht mehr in der Nähe ihrer pflegebedürftigen Eltern wohnen, die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen sowie die steigende Scheidungsrate. Lehr: „Wer pflegt schon die Ex-Schwiegermutter?“ Um Demenz vorzubeugen, empfahl sie, sich viel zu bewegen, geistig aktiv zu bleiben, Kontakte zu pflegen, sich gesund zu ernähren und Neues zu lernen.

Häufig sind Betreuer überfordert

Die ehemalige Gutachterin für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen, Margot Lucke (Isernhagen), sagte, sie habe bei Hausbesuchen selten eine entspannte Pflegesituation vorgefunden. Oft seien Betreuer überfordert und ratlos. Sie hätten Schuldgefühle, Schlafstörungen und vernachlässigten ihre sozialen Kontakte. Zudem seien sie häufig verzweifelt, wenn der Kranke mit Zorn oder Aggression reagiere. Auch Pflegeheime seien nicht immer in der Lage, die besonderen Bedürfnisse dementer Patienten zu erkennen und auf sie einzugehen. Auffällig sei eine „Zunahme an freiheitsentziehenden Maßnahmen und die ungewöhnlich hohe Anwendung von Psychopharmaka“. Es fehle an gut ausgebildeten Pflegekräften. Wünschenswert sei ein „Freiwilliges soziales Jahr für Senioren“, um die noch älteren Rentner zu betreuen, so Margot Lucke. Erwogen werden solle auch eine Rufnummer „113“ für Rat in pflegerischen Notsituationen.

Den Augenblick genießen

Dem Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, Prof. Andreas Kruse, zufolge ist es schwierig, die langfristige emotionale Stabilität von Demenzkranken zu fördern. Grund sei eine Schädigung des Gedächtnisses. Jedoch könne ein Demenzkranker den Augenblick genießen. Dinge, die sonst als selbstverständlich erscheinen, etwa gutes Essen oder Musik, würden als besonders wertvoll empfunden. Kruse forderte dazu auf, sich in die Lage von Demenzkranken zu versetzen. Sie spürten, wenn sie nicht ernst genommen würden.

Was Demenzbetroffene sagen

Zu Wort kamen bei der Veranstaltung auch von der Krankheit Betroffene. Der ehemalige Geschäftsführer einer Firma für Messebau, Christian Zimmermann (51, München), sagte, es gebe „ein Leben nach der Diagnose“. Seit bei ihm vor drei Jahren Demenz festgestellt worden war, nehme er die Welt intensiver wahr. Zwar könne er nicht mehr Auto fahren, dafür genieße er Spaziergänge, das Malen und Theater spielen. Manchmal sei er aber auch traurig oder ärgerlich, etwa wenn ihm die Worte fehlten oder er seinen Pullover fünfmal verkehrt herum anziehe. Hilfreich sei es für ihn, seine Krankheit nicht zu verschweigen. Die frühere Fremdsprachensekretärin Helga Rohra (57, München) berichtete, sie sei nach ihrer Demenz-Diagnose depressiv geworden. Demenz sei in der Gesellschaft ein Stigma und werde bisher nur von wenigen Menschen verstanden. Demenzkranke wollten nicht aus der Gesellschaft aussortiert werden. Man solle nicht über sie reden, sondern mit ihnen.