20. Oktober 2021

Warum mussten christliche Helfer in Afghanistan sterben?

Quelle: idea.de

Der Internationale Direktor der Weltweiten Evangelischen Allianz, Geoff Tunnicliffe: Sinnlose Gräueltat. Foto: PR

Kabul (idea) – Weltweit hat die Ermordung ehrenamtlicher Mitarbeiter einer christlichen Hilfsorganisation in Afghanistan Entsetzen und Entrüstung ausgelöst. Die Leichen von sechs US-Amerikanern, zwei Afghanen, einer Deutschen und einer Engländerin waren am 5. August im Nordwesten des Landes entdeckt worden. Die radikal-islamischen Taliban bekannten sich zu dem Anschlag.
 

Von einer „sinnlosen Gräueltat“ sprach der Internationale Direktor der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), Geoff Tunnicliffe (New York). Opfer seien nicht nur die Getöteten, sondern unter der blutigen Gewalt litten auch die Ärmsten der Armen, wenn Einsätze ehrenamtlich tätiger Mediziner verhindert würden. Die WEA repräsentiert 420 Millionen Evangelikale in 128 Ländern. Der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb (Stuttgart), reagierte mit „großer Betroffenheit und tiefer Trauer“ auf den „Raubüberfall“. Die Ermordeten seien aus christlichem Mitgefühl für Notleidende unterwegs gewesen. Ihre Organisation, die seit 44 Jahren in Afghanistan tätige International Assistance Mission (IAM), helfe „nach dem biblischen Vorbild des Barmherzigen Samariters“, so Steeb. Der Sprecher der EKD, Oberkirchenrat Reinhard Mawick (Hannover), sagte auf Anfrage von idea, man sei betroffen über den „furchtbaren“ Anschlag. Er sei umso schlimmer, da sich die Opfer ehrenamtlich zum Wohle der afghanischen Bevölkerung engagiert hätten. Der katholische Kurienerzbischof Rino Fisichella (Vatikanstadt), Präsident des Päpstlichen Rates für die Neuevangelisierung, verurteilte die Morde als gezielte Gewalttat gegen Christen. Die Bundesregierung sprach von „feigem Mord“. US-Außenministerin Hillary Clinton wies darauf hin, dass die Getöteten ohne Entgelt Dienste für Menschen in Not geleitet hätten.

Landesbischof Bohl: Abscheu und Mitgefühl

IAM-Direktor Dirk Frans bestätigte am 9. August in Kabul, dass es sich bei den Getöteten um Mitarbeiter seiner Organisation handele. Die Leichen wurden in der Trauerhalle des afghanischen Militärhospitals in Kabul aufgebahrt. Ein Opfer ist die 35-jährige Dolmetscherin Daniela Beyer aus Chemnitz, die fließend die afghanische Sprache Dari sowie Englisch beherrschte. Sie war bis 2006 in der Jugendarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Wittgensdorf in Chemnitz tätig. Der sächsische Landesbischof Jochen Bohl (Dresden) brachte seine Abscheu gegenüber dem Anschlag und sein Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer zum Ausdruck. Der Mord sei ein Zeichen für die kriminelle Einstellung von Gruppen wie den Taliban. Die Chemnitzerin sei durch ihren Glauben motiviert, aber nicht zum Missionieren nach Afghanistan gereist. Beyer war von der ebenfalls erschossenen englischen Chirurgin Karen Woo für den Einsatz gewonnen worden. Die 36-Jährige wollte in Kürze ihren Verlobten, einen britischen Soldaten, heiraten. Identifiziert wurden auch fünf der sechs getöteten Amerikaner. Der aus Delmar (Bundesstaat New York) stammende Optiker Tom Little (61) war seit 34 Jahren in Afghanistan und koordinierte die augenmedizinische Hilfe von IAM. Er hinterlässt seine Frau Libby und drei erwachsene Töchter, die in dem Land am Hindukusch aufgewachsen sind. Erschossen wurde ferner Littles Gefährte Dan Terry (64), der seit 1971 als Entwicklungshelfer in Afghanistan tätig war. Er hinterlässt seine Frau, drei Töchter und eine Enkelin. Der Zahnarzt Thomas Grams (51) hatte seine Praxis in Durango (Bundesstaat Colorado) aufgegeben und war seit fünf Jahren in Afghanistan. Der 40-jährige Intensivpfleger Glen Lapp aus Lancaster (Bundesstaat Pennsylvania) war vom Mennonitischen Zentralkomitee für zwei Jahre nach Afghanistan entsandt. Auf Gesundheitsfragen von Müttern und Kinder spezialisiert war die 32-jährige Cheryl Beckett, eine Pastorentochter aus Knoxville (Bundesstaat Tennessee). Um sie trauern ihre Eltern und drei Geschwister. Der 25-jährige Brian Canderelli aus dem Bundesstaat Pennsylvania war ein Videoproduzent. Die beiden ermordeten Afghanen sind der 50-jährige verheiratete Wachmann Mahram Ali, Vater von drei Kindern, sowie ein von IAM als Jawed bezeichneter 24 Jahre alter Koch.

Bibeln gefunden

Das mobile IAM-Ärzteteams hatte im Parun-Tal (Provinz Nuristan) vor allem Mütter und Kinder allgemeinmedizinisch sowie zahn- und augenmedizinisch untersucht und behandelt. Dort leben etwa 50.000 Menschen ohne ausreichende Gesundheitsversorgung. Die Entwicklungshelfer waren auf dem Rückweg durch die Provinz Badachschan. Am 5. August wurden ihre Leichen in der Nähe ihrer Fahrzeuge erschossen aufgefunden. Nach Angaben des Fahrers, der verschont wurde, weil er Koran-Verse zitierte, wurden die Mitglieder des Teams von bewaffneten Männern aufgereiht und der Reihe nach erschossen. Taliban-Sprecher Zabiuzllah Mujahid sagte, die Helfer hätten sterben müssen, weil sie Spione und christliche Missionare gewesen seien. Man habe bei ihnen eine Bibel in der Sprache Dari gefunden. Die afghanische Polizei ging zunächst von Raubmord aus, weil wertvolle Gegenstände, etwa Handys, verschwunden waren, revidierte diese Einschätzung jedoch später, so die Zeitung New York Times.

IAM: Vorwurf der Missionierung ist „Lüge“

Der IAM-Direktor wies die Behauptung, dass die Ermordeten Missionare gewesen seien, als „Lüge“ zurück. „Wir predigen nicht das Christentum, wir verteilen keine Bibeln. Das ist nicht unsere Arbeit, auf die wir uns mit der Regierung geeinigt haben“, sagte Frans am 8. August in Kabul. Die IAM sei staatlich anerkannt; auch der jüngste Einsatz sei genehmigt gewesen. Die Organisation wolle ihre Arbeit trotz des Anschlags fortsetzen. Sie betreibt Augenkliniken in mehreren Städten Afghanistans und leistet auch in anderen Bereichen humanitäre Hilfe. Das Hilfswerk ist eine Partnerorganisation der Christoffel-Blindenmission (CBM/Bensheim). Deren Sprecher Wolfgang Jochum erklärte im Blick auf die CBM-Projekte in Afghanistan: „Ich gehe davon aus, dass die Einsätze erst mal gestoppt werden.“ Insgesamt sind in Afghanistan in diesem Jahr nach Angaben der afghanischen Sicherheitsbehörde für Nicht-Regierungs-Organisationen 17 Entwicklungshelfer getötet und weitere 19 entführt worden.

Allianzbeauftragter warnte vor Bedrohung von Christen

Erst am 5. August hatte der Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz des Bundestags und der Bundesregierung, Wolfgang Baake (Wetzlar), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem Schreiben gebeten, sich schnellstens bei der afghanischen Regierung für eine bessere Situation der Christen im Land einzusetzen. Baake – hauptamtlich Geschäftsführer des Christlichen Medienverbunds KEP (Konferenz Evangelikaler Publizisten) – zeigte sich besorgt über die bedrohliche Lage der Christen. Besonders Menschen, die vom Islam zum Christentum übergetreten sind, befänden sich in Todesgefahr. Baake: „Es kann nicht sein, dass deutsche und andere alliierte Soldaten, die auch einer christlichen Religion angehören, Leib und Leben opfern, um in Afghanistan zu helfen stabile und rechtsstaatliche Verhältnisse aufzubauen, und afghanische Bürger, die zum christlichen Glauben übergetreten sind, in Afghanistan verfolgt werden und um Leid und Leben fürchten müssen.“ Von den 28,4 Millionen Einwohnern Afghanistans sind 99,9 Prozent Muslime. Hinzu kommen etwa 15.000 Hindus und wenige Sikhs, deren Religionen staatlich anerkannt sind. Über die Zahl der Christen ist nichts bekannt.