20. Oktober 2021

Steinmeier: Wir kämpfen für eine gerechtere Welt

Quelle: idea.de

Der SPD-Kanzlerkandidat und Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier. Foto: Pletz Fotodesign

Er möchte gern Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden: Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier. Was viele nicht wissen: Steinmeier ist engagierter evangelischer Christ, geboren 1956 im lippischen Detmold, einer Region, die von der reformierten Kirche bestimmt ist. Sein Lieblingskirchenlied stammt freilich von einem Lutheraner (Paul Gerhardt) – „und das nicht nur im Sommer“ (wie er betont): „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit“. Bibelworte, die ihm besonders viel bedeuten, sind Jesu Zusage „Selig sind, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9) und „Unter den Übermütigen ist immer Streit“ (Sprüche 13,10). Der promovierte Jurist Steinmeier – verheiratet (seine Frau stammt aus dem Siegerland) und Vater einer Tochter – war bis 2005 bei Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Chef des Bundeskanzleramtes. In der Großen Koalition ist er unter Angela Merkel (CDU) seit Ende 2005 Außenminister. Mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Steinmeier – dessen Wahlkreis in Brandenburg liegt – sprach im Außenministerium idea-Leiter Helmut Matthies.

 
idea: Herr Dr. Steinmeier, warum sollte ein Christ eigentlich SPD wählen?

Steinmeier: Zunächst einmal sollte jeder Christ wählen gehen. Denn wer durch seine Stimme nicht mitentscheidet, lässt andere über sich entscheiden. Die SPD sollte Christen am Herzen liegen, weil sie in der Geschichte des deutschen Volkes auch dann treu zur Demokratie gestanden hat, wenn diese höchst gefährdet war. Und genauso wichtig: Die SPD setzt sich dafür ein, dass Bürger nicht benachteiligt bzw. ungerecht behandelt werden. Unsere Gesellschaft braucht sozialen Ausgleich, wenn das demokratische Miteinander nicht gefährdet werden soll.

idea: … und darüber hinaus: Welche Bedeutung sollte der christliche Glaube prinzipiell für die Sozialdemokratie haben?

Steinmeier: Von Egon Bahr stammt der schöne Satz: „Sich mit den Zuständen zu befassen, die wir vorfinden, heißt nicht, sich mit ihnen abzufinden.“ Das beschreibt gut mein Grundverständnis von Politik – als Christ und als Sozialdemokrat. Wir müssen der Wirklichkeit ins Auge sehen und dürfen uns nicht, wie die Linkspartei, in ein Märchenreich flüchten. Aber wir dürfen auch nicht zynisch sagen: „So ist das halt. Da kann man nix tun.“ Wir Sozialdemokraten kämpfen für eine bessere und gerechtere Welt – und wir wissen, dass dieser Kampf jeden Tag neu beginnt.

Die soziale Marktwirtschaft aus reformatorischem Geist

idea: Sie haben beim Festakt zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin am 10. Juli in Berlin gesagt, Sie wünschten sich „eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft aus reformatorischem Geist“. Wo würden Sie als Kanzler für Änderungen sorgen?

Steinmeier: Calvin hat in Genf immer wieder betont: Eigentum verpflichtet! Auch der Finanzbereich, den es schon damals in Genf gab, braucht ein ethisches Fundament. In diesem Sinne gehört er zu den Vorvätern der sozialen Marktwirtschaft. Vieles hat sich seitdem geändert, gewiss. Aber einige alte Wahrheiten sind es wert, wiederentdeckt zu werden: dass die Wirtschaft dem Menschen dient und nicht umgekehrt, dass der schnelle Gewinn kein Selbstzweck ist und dass Starke den Schwächeren helfen müssen. Wenn man das ernst nimmt, hat das politische Konsequenzen. Die, die ich daraus ziehe, stehen im SPD-Wahlprogramm und in meinem Deutschlandplan.

idea: Was bedeutet die Theologie Calvins für Sie persönlich?

Steinmeier: Ich komme aus der reformierten Tradition, allerdings in einer dem Lipper angemessenen, volkskirchlich-moderaten Form. Die dogmatischen Unterschiede, über die im 16. und 17. Jahrhundert so heftig gestritten wurde, hatten für mich nie große Bedeutung. Historisch scheint mir unbestreitbar, dass erst Calvin die Reformation zu einer gesamteuropäischen Bewegung gemacht hat. Und das ist gelungen, weil bei ihm die einzelne Gemeinde im Mittelpunkt stand. Für Calvin galt: In der Gemeinde stehen die Menschen füreinander ein, die Starken für die Schwachen, auch in der Verfolgung. Diese Solidarität hat die Menschen beeindruckt. Für Calvin war klar: Christ kann man nicht nur im Inneren sein. Wer Christ ist, trägt Verantwortung in der Welt.

Was ist mit der Abtreibung?

idea: Die SPD will sich für die Schwächeren einsetzen. Wie steht es um die Allerschwächsten: die ungeborenen Kinder? Was will die SPD tun, damit die Zahl von weit über 100.000 Abtreibungen in Deutschland pro Jahr vermindert wird?

Steinmeier: Ich freue mich über jedes Kind, das liebevoll betreut groß werden kann. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Bedingungen dafür verbessert werden. Dazu gehört das Elterngeld, das wir eingeführt haben, um junge Familien und Alleinerziehende zu unterstützen. Dazu gehört der Kinderzuschlag, der verhindern soll, dass Familien mit Kindern in Armut stürzen. Außerdem wollen wir ein noch viel breiteres Angebot an Kinderbetreuung. Es geht um eine kinderfreundliche Gesellschaft, ein Klima, das Väter und Mütter ermutigt, sich für Kinder zu entscheiden.

Dieser Mann ist ein Held

idea: Ein Thema, das gegenwärtig ganz Deutschland bewegt, ist, dass ein 50-jähriger Unternehmer in München seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlte. Er hatte sich schützend vor vier Kinder gestellt, die von zwei jungen Schlägern bedroht wurden, und wurde deshalb von diesen totgeschlagen.

Steinmeier: Dominik Brunner ist für mich ein wirklicher Held. Aber es ist ein Schock zu wissen, dass er allein war. Er hat Hilfe gegeben – aber er selbst hätte Hilfe gebraucht, um zu überleben. Der Mut dieses einzelnen Menschen muss uns beschämen. Erst wenn in Zukunft der Mut der vielen an seine Stelle tritt, werden wir unserer Verantwortung gerecht.

Die Linkspartei bietet „Steine statt Brot“

idea: Zu einer starken SPD-Konkurrenz: der Linkspartei. Sie hat einen ungeahnten Zulauf. Was ist seit der friedlichen Revolution da falsch gelaufen? Ist die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht ausreichend erfolgt?

Steinmeier: Ich glaube, dass die Linkspartei vor allem von ihrem durch und durch populistischen Angebot lebt. Schaut man näher hin, was die Partei bietet, so sind es „Steine statt Brot“. Kein einziger Vorschlag dieser Partei hilft, Krisen wie die zu verhindern, die wir in der Wirtschaft im Augenblick erleben.

idea: Sie haben sich am 9. Oktober letzten Jahres anlässlich der Großdemonstration vor 19 Jahren in Leipzig in der Nikolaikirche gegen eine Verharmlosung des Unrechts in der DDR gewandt. Sie sagten, das Zeugnis derer, die damals mit gegen das Unrecht in der DDR aufgestanden sind, „ist unsere wichtigste Waffe gegen die Geschichtsklitterung, wie sie manche betreiben“. Verbietet sich nicht von daher im Augenblick noch jede Koalition mit der Nachfolgepartei der SED?

Steinmeier: Die Linkspartei hat weder in dieser noch in vielen anderen wichtigen Fragen eine klare Haltung. Sie hat ja nicht einmal ein Wahlprogramm! Deshalb sage ich mit aller Deutlichkeit: Wer den Austritt aus der NATO fordert und gegen Europa ist, kann für uns auf Bundesebene kein Koalitionspartner sein. Auf Länder- oder Kommunalebene geht es um andere Themen, deshalb muss dort entschieden werden, was jeweils geht. Da gibt es mittlerweile sehr unterschiedliche Modelle, auch Bündnisse mit der Union.

Wo sind die entführten Christen im Jemen?

idea: Nun Fragen an Sie als Außenminister. Viele bewegt das Schicksal der am 12. Juni im Jemen entführten Christen – besonders im Blick auf eine fünfköpfige Entwicklungshelferfamilie aus Sachsen. Was unternimmt der Krisenstab Ihres Ministeriums? Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Entführten noch am Leben sind?

Steinmeier: Ich kann die Sorge der Angehörigen und Freunde der Familie sehr gut verstehen, auch die öffentliche Anteilnahme an ihrem Schicksal, besonders ihrer Heimatregion. Das Ehepaar und seine Kinder wurden vor über drei Monaten verschleppt in einer schwer zugänglichen und von inneren Konflikten zerrissenen Region. Drei ihrer Reisebegleiterinnen wurden heimtü­ckisch ermordet. Unser Krisenstab tut alles, was möglich ist, aber bitte verstehen Sie, dass ich Ihnen zu den Einzelheiten nichts sagen kann.

Dank für viele mutige Entwicklungshelfer

idea: In einigen Medien wurde im Zusammenhang mit den dort getöteten zwei Krankenschwestern aus Wolfsburg kritisiert, dass junge Deutsche überhaupt in Konfliktregionen gehen. Sie selbst haben am 18. August humanitären Helfern für ihre Arbeit in weltweiten Krisengebieten gedankt. Machen Sie jungen Deutschen Mut zu solchen Einsätzen?

Steinmeier: Zunächst einmal: Wir haben wirklich allen Grund, den vielen mutigen Helferinnen und Helfern zu danken, die weltweit und oft unter schwierigsten Bedingungen im Einsatz sind. Sie lindern Not dort, wo sie am größten ist, und sie sind es, die verzweifelten Menschen ein Stück Hoffnung zurückgeben. Das darf natürlich nicht heißen – weder für uns noch für die Entsendeorganisationen –, unverantwortliche Risiken einzugehen. Wir weisen deshalb auf unseren Internetseiten und über unsere Botschaften sehr offen auf Gefahren hin, die bei Reisen oder der Arbeit in einer bestimmten Region bestehen können. Ich kann nur raten, diese Hinweise wirklich ernst zu nehmen.

Was tut die deutsche Politik gegen Christenverfolgung?

idea: Kirchen in Deutschland sind beunruhigt darüber, dass gerade in den letzten Monaten die Verfolgung von Christen in islamischen (Irak, Iran, Pakistan, Somalia und Sudan), hinduistischen (Indien) und kommunistischen Staaten (China, Laos und Vietnam) teilweise stark zugenommen hat. Hunderte sind ermordet worden. Kann hier die deutsche Außenpolitik helfen, für mehr Religionsfreiheit zu sorgen? Wenn ja, was wird unternommen?

Steinmeier: Natürlich ist das ein wichtiges Thema, auch in den Gesprächen, die ich selbst mit meinen ausländischen Kollegen führe. In der Türkei setzen wir uns zum Beispiel für die religiöse Nutzung der Pilgerkirche in Tarsus ein. Wir begleiten sehr aktiv die Gerichtsverfahren um das Kloster Mor Gabriel. In Bagdad habe ich mich mit irakischen Bischöfen getroffen, um die Lage der Christen in ihrem Land zu besprechen. Nach den Übergriffen auf Christen in Mossul im Oktober vergangenen Jahres haben wir sofort mit humanitärer Hilfe reagiert. Und wir haben in der EU die Aufnahme von 2.500 besonders schutzbedürftigen Irakern vereinbart. Dabei hatten wir besonders die verfolgten Christen im Blick. Aber ich sage auch: Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, für uns seien nur die Diskriminierung und Verfolgung von Christen ein Problem. Wo immer Menschen aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, ist unsere Stimme und unsere Hilfe gefragt. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Der Wahlkämpfer Steinmeier

idea: Zu Ihnen persönlich als Wahlkämpfer. Wie halten Sie es eigentlich aus, eines der größten und wichtigsten Ministerien zu leiten und gleichzeitig zahllose Wahlkampfauftritte absolvieren und sich immer in Spitzenform präsentieren zu müssen?

Steinmeier: Was man sich auch vornimmt, um gesünder zu leben – in so einer Zeit schafft man es kaum, weil einfach die Ruhezeiten fehlen. Aber ich bin dankbar für ein starkes Nervenkostüm, gepaart mit einem großen Maß an Zuversicht.

Hier hilft mir der Glaube

idea: Hilft Ihnen da auch Ihr christlicher Glaube?

Steinmeier: Ich habe bewusst von Zuversicht gesprochen. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover hatte ich eine Bibelarbeit über einen Text aus dem 5. Buch Mose zu halten, wo es um das Thema ging: „Hören und handeln von ganzem Herzen“. Bei der intensiven Beschäftigung mit dem Text ist mir deutlich geworden, wie wichtig es für Menschen ist, dass sie Zuversicht haben können, ja dass Zuversicht ihr ganzes Leben bestimmen sollte. Gerade Christen dürfen wissen, dass das letzte Wort nicht der Unfriede, sondern der Friede hat. Das gibt uns Kraft, den Unfrieden zu überwinden.

idea: Sie haben in den letzten Wochen viel Kritik erlebt …

Steinmeier: Der christliche Glaube lehrt vor allem eins: dass es nicht allein auf die eigene Kraft ankommt. Das gibt eine gewisse Grundgelassenheit – in guten wie in weniger guten Zeiten. Die hat mich nie verlassen. Und dafür bin ich dankbar.

idea: Ist es für Sie eine Hilfe, wenn Menschen für Sie beten?

Steinmeier: Ich weiß von vielen, dass sie das tun, und ich fühle mich dadurch gestützt.

idea: Danke für das Gespräch.