28. Januar 2022

Evangelikale, was nun? – Ein Kommentar von Helmut Matthies

Quelle: ideaSpektrum Nr. 16 / 16.April 2009
 

Selten zuvor wurde eine Erneuerungsbewegung im Protestantismus in nur wenigen Monaten so heftig attackiert wie die evangelikale. Die Angriffe stammen sowohl von linksorientierten Blättern (samt vielen Dritten Fernsehprogrammen) als auch entsprechenden Gruppierungen in der Kirche. Sie haben ein Ausmaß erreicht, das zu Konsequenzen führen sollte, will man nicht noch mehr Ausgrenzung in Kauf nehmen. Selbst die bürgerliche Tageszeitung „Die Welt“ (Berlin) kritisierte polemisch die Evangelisation ProChrist. Im Fernsehen lief zuletzt ein unsachlicher Beitrag über die Evangelikalen in 3sat am 7. April. Am meisten Aufsehen erregt das Buch „Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland“: Es ist geradezu eine Warnung vor der evangelikalen Bewegung – gut geschrieben, aber oft manipulierend und unsauber recherchiert. Selbst die Evangelische Nachrichtenagentur idea wird einfach umbenannt, ihr Name nicht ein einziges Mal richtig zitiert. Wie sollten nun aber Evangelikale mit der wachsenden Kritik umgehen?
Zunächst einmal kann die evangelikale Bewegung die große Aufmerksamkeit als Erfolg verbuchen. Wäre sie klein und würde sie wenig bewirken, sähen Andersdenkende keinen Grund, gegen sie zu schreiben. Lange Zeit galten die, die den Hauptstrom der evangelikalen Bewegung stellen – die Pietisten –, als die „Stillen im Land“. Sie waren missionarisch wie sozial aktiv (so gut wie alle Diakonissen zählen zum Pietismus), hatten aber keine Medienarbeit und wollten auch nicht in der Öffentlichkeit groß vorkommen. Das änderte sich mit den großen Billy-Graham-Evangelisationen in den 50er und 60er Jahren in Deutschland. Plötzlich trafen sich Hunderttausende. Dem großen Sammelbecken der landes- und freikirchlichen Pietisten – der Evangelischen Allianz – wurde bewusst, dass man eine große Bewegung darstellt, ja die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) stellte sogar fest, dass es sich hier „vielleicht sogar um die Majorität der aktiven Christen“ handelt.

Von pietistisch zu evangelikal
Als es dann in den 60er Jahren vor allem durch die Kirchentage und viele Theologische Fakultäten zur sogenannten modernen Theologie mit den Auswüchsen einer Gott-ist-tot-Theologie und anderen Irrlehren kam, schlossen sich immer mehr Christen zu Vereinigungen zusammen. Und viele bezeichneten sich – der US-Einfluss mit Billy Graham machte sich bemerkbar – nach anglo-amerikanischem Vorbild als „evangelikal“. Im Fremdwortduden heißt es, dies bedeute „dem Evangelium gemäß“. Zu den Evangelikalen zählten sich nun alle, die vorher unter ganz anderen Begriffen bekannt waren: Pietisten (von Gegnern während der Debatte um den Vietnamkrieg gegen die kommunistischen Vietcongs auch „Pietcongs“ geschimpft), Bibel- und Bekenntnistreue, theologische Fundamentalisten, Bibelgläubige, Biblizisten usw. Den Hauptstrom bildet die Evangelische Allianz. Nebenströme sind die Evangelikalen, die sich in Bekenntnisbewegungen und Kirchlichen Sammlungen oder in charismatischen Gruppen vereinen.

Die neuen Buhmänner
Jahrelang bedauerten die Evangelikalen, dass sie weder in kirchlichen Leitungsgremien noch in den Medien angemessen vorkämen, obwohl sie – nehmen wir nur Deutschland – beispielsweise mehr als sechsmal so viele Missionare ausgesandt haben wie kirchliche Missionswerke, weite Teile der kirchlichen Jugendarbeit leisten und mehr fromme Bücher verkaufen als alle liberalen christlichen Verlage zusammen usw. Der größte Gottesdienst Europas in diesem Jahr – ProChrist – Anfang April mit über einer Million Besuchern wird ebenso von Evangelikalen verantwortet wie der „Kirchentag für Wirtschaftslenker“ – der Kongress christlicher Führungskräfte – mit fast 4.000 Teilnehmern Ende Februar in Düsseldorf. Vermutlich ist es dieser wachsende Erfolg der evangelikalen Bewegung, der theologisch, ethisch und politisch Andersdenkende aufhorchen lässt. Denn in jedem längeren kritischen Beitrag über die Evangelikalen wird zunächst – oft maßlos übertrieben – dargestellt, wie mächtig und damit gefährlich diese Bewegung doch geworden sei. Die grünalternative „tageszeitung“ (taz, Berlin) bezifferte die Zahl der Evangelikalen in Deutschland gar auf 2,5 Millionen. (Tatsächlich dürften es etwas mehr als eine Million sein.) Entsprechend sind die Evangelikalen die Buhmänner vor allem linksorientierter Gruppierungen und Medien.

Was zu erwarten ist
Aber ist auch etwas anderes zu erwarten gewesen? Christen mussten immer gegen den Strom der Zeit schwimmen, bildeten doch Gottes Gebote selten in der Geschichte der Menschheit den Maßstab gesellschaftlichen Handelns. Wer entgegenschwimmt, darf sich nicht wundern, wenn es Kritik gibt. Im Übrigen ist konsequenten Christen auch gar nichts anderes verheißen. Sie gehören laut Jesus nie zu denen, die von der großen Masse akzeptiert werden. Wenn Christen, die die Bibel ernst nehmen, nicht kritisiert werden, stimmt in der Regel mit ihnen selbst etwas nicht. Sie haben vermutlich ihren Glauben nur so gelebt, dass es außerhalb ihrer Familie und Gemeinde keiner gemerkt hat.

Ist die Kritik berechtigt?
Doch man darf es sich auch nicht zu leicht machen und sofort meinen, man bewege sich voll auf dem Kurs Jesu und stehe kurz vor dem Martyrium. Vielmehr sollte sich jeder die Frage stellen, ob manche Kritik nicht auch berechtigt sein könnte. Dass man von säkularer, linker und theologisch liberaler Seite angegriffen wird, ist nicht immer ein Zeichen dafür, dass man auch geistlich richtig steht. Ein selbstkritischer Blick gebietet nicht nur die Fairness, sondern auch der seelsorgerliche Wunsch, andere nicht durch sein Verhalten von einem Leben in der Nachfolge Jesu Christi abzuhalten. Dazu im Folgenden ein erster Versuch.

Charismatische Extreme
1. In dem jüngst erschienenen Buch „Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland“ beschäftigen sich zwei junge Journalisten – Oda Lambrecht, Redakteurin bei ARD aktuell (Tagesschau), und Christian Baars (NDR) – zu etwa einem Drittel mit der charismatischen und pfingstkirchlichen Bewegung. Diese auch zu den Evangelikalen zählende Erneuerungsbewegung hat in den letzten Jahrzehnten viele Verkrustungen aufgebrochen, mancherorts zu lebendigeren Gottesdiensten geführt und ist für nicht wenige zum Segen geworden. Auf der anderen Seite haben extreme Gruppen aber auch großen Schaden angerichtet: sowohl durch falsche Prophetien oder Heilungsversprechungen, die nicht eingelöst werden konnten, als auch durch eine erschreckende Großmäuligkeit. Man denke nur an die Vorhersagen einzelner charismatischer Sprecher – vor allem aus den USA –, nach der Wiedervereinigung stehe Deutschland kurz vor einer Erweckung.

Wenn die Heilung ausbleibt
Der Autor dieses Kommentars hat selbst erlebt, dass in einer großen charismatischen Gemeinde in Deutschland einem 18-jährigen, an Muskelschwund erkrankten jungen Mann fest zugesagt wurde, dass er geheilt werde. Dieser junge Mann vertraute darauf, weil er glaubte, dass die Männer, die über ihm gebetet hatten, im Namen Jesu sprachen. Er starb, und der Glaube mancher, denen er davon berichtet hatte, geriet ins Wanken. Dabei gibt es nirgendwo eine neutestamentliche Aussage, dass Jesus immer heilen würde. Im Gegenteil: Jesus selbst hat nicht überall alle gesund gemacht. Glaubensheilungen sind bis heute jedenfalls in unseren Breiten die absolute Ausnahme. Das Verhalten einzelner (!) charismatischer und der ihnen verwandten pfingstkirchlichen Prediger hat dem Anliegen der evangelikalen Bewegung jedenfalls sehr geschadet. Das geht aus zahlreichen kritischen Artikeln über die evangelikale Bewegung hervor – leider meist zu Recht!

Kennen Evangelikale nur drei Themen?
2. Kritik wird auch daran geübt, dass viele Evangelikale offensichtlich nur drei Themenbereiche kennen: zum einen Mission und zum anderen auf ethischem Gebiet Abtreibung wie Homosexualität und politisch einen angeblichen Israelfanatismus. Dass es bei der Mission eine Priorität gibt, ist konsequent biblisch. Denn tatsächlich ist das ewige Heil letztlich wichtiger als das irdische Wohl. Jesus sagt selbst: Was nützt dem Menschen ein gutes Leben im doch nur begrenzten irdischen Dasein, wenn er für die himmlische Ewigkeit verloren geht? Aber an vielen Stellen in der Bibel wird eben auch gemahnt, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, bis hin zu einer angemessenen finanziellen Bezahlung. Wie oft fordert nicht Jesus dazu auf, sich für Arme und Schwache ganz konkret einzusetzen! Entsprechend sind die Evangelikalen auf diakonischem und sozialem Gebiet auch immer Vorreiter im Praktischen gewesen – haben dies aber selten herausgestellt und auch weniger über diese Themen gepredigt als über die Notwendigkeit der Umkehr zu Gott. Daran ist richtig, dass nur ein Mensch, der weiß, dass er sich einmal für alles vor Gott verantworten muss, auch motiviert ist, sich gerecht und sozial zu verhalten. In der Praxis der evangelikalen Bewegung gab es nie Ein-Themigkeit, in der Verkündigung aber häufig schon.

Streitpunkt Abtreibung
Es ist leider nach wie vor so, dass das größte Verbrechen in der Nachkriegsgeschichte in Deutschland wie in Europa in der Tötung von über zehn Millionen Kindern im Mutterleib besteht. Daher müssten die Evangelikalen eigentlich noch viel mehr gegen diesen furchtbaren Zustand protestieren. Gleichzeitig sollten sie aber auch noch mehr darauf hinweisen, dass sie auch – was die Kritiker der evangelikalen Bewegung meist verschweigen – zahlreiche Hilfen für Schwangere und Mütter in Not anbieten.

Streitpunkt Homosexualität
Bei diesem Dauerthema wird den Evangelikalen unterstellt, dass sie geradezu eine Hetzjagd gegen Homosexuelle betrieben. Tatsache ist, dass es in der ganzen Bibel keine positive Darstellung eheähnlich praktizierter Homosexualität gibt. Es sei denn, man würde eine Aussage von David über seinen Freund Jonathan (2. Samuel 1,26) entsprechend interpretieren. Auf der anderen Seite sollten sich manche Evangelikale deutlich machen, dass Jesus selbst (Matthäus 19,11 f) ganz wertfrei zu diesem Thema sagt, dass es eben tatsächlich Menschen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen zur Ehe zwischen Mann und Frau unfähig sind – und er konnte hier keine Eunuchen vor Augen haben. Wenn es so ist, dass mindestens 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung homosexuell sein sollen, dann würde dies im Blick auf 460 Millionen evangelikale Christen weltweit bedeuten, dass unter ihnen auch rund 10 bis 20 Millionen homosexuell empfindende Männer und Frauen leben. Sie können meist nie etwas für ihre Orientierung. Einige haben sogar versucht, eine andere sexuelle Orientierung zu bekommen. Vielfach ist dieses erfreulicherweise gelungen – aber eben längst nicht immer. Homosexuelles Empfinden allein ist jedenfalls keine Sünde. Entsprechend sollten manche Evangelikale mehr differenzieren und Homosexuellen, die sich bemühen, im Einklang mit der Bibel zu leben, mit ebensolcher Hochachtung begegnen wie anderen Christen. Das betrifft auch die Themen der Verkündigung! Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth (1. Korinther 9,6): „Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben (heute würde man von Callboys sprechen), Knabenschänder (Päderasten), Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben.“ Wann wird in evangelikalen Gemeinden auch intensiv darüber gepredigt, dass Geiz, Suff und Lästerei über andere vom Himmel ausschließen?

Streitpunkt Israel
Politisch wird eine blinde Israelgläubigkeit kritisiert nach dem Motto „Alles, was die israelische Regierung tut, ist richtig“, sei doch das jetzt in Israel lebende Volk Gottes Volk. Ist diese Kritik nicht teilweise auch berechtigt? Wer jedenfalls zum Volk Gottes gehört, entscheidet sich laut dem Juden Jesus Christus allein daran, ob er ihn als Messias (Sohn Gottes) in seinem Leben als Maßstab anerkennt oder nicht. Natürlich steht Christen der Staat Israel näher als alle anderen Staaten – von ihrer Heimat abgesehen. Denn keine Religion ist ihnen so verbunden wie die jüdische. Aber getreu den Propheten des Alten Testamentes und den Anklagen Jesu an sein Volk darf nicht alles gebilligt werden, was die israelische Regierung tut. Zu Recht werfen ihr jetzt europäische Medien vor, mit dem neuen Außenminister – Avigdor Lieberman – einen „Rassisten“ bzw. „Rechtsextremisten“ ins Kabinett geholt zu haben. Hätte je eine deutsche Regierung auch nur einen Rechtsradikalen als Minister benannt, würde die israelische Regierung alle Beziehungen zu Deutschland abbrechen.

Machen Evangelikale Angst?
3. Ein weiterer Hauptkritikpunkt der evangelikalen Gegner ist, dass man in dieser Bewegung lieblos mit liberalen Christen oder Andersgläubigen umgehe.
Christen haben nach dem neutestamentlichen Zeugnis unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass Jesus Christus allein Weg, Wahrheit und Leben ist. An Christus entscheidet sich, ob jemand in den Himmel oder in die Hölle kommt. Das sagt Jesus Christus von sich. Vielfach wird es aber von Evangelikalen so wiedergegeben, als ob sie es selbst behaupten würden. Und das führt dazu, dass Andersdenkende den Eindruck haben, die Evangelikalen meinten, die Wahrheit gepachtet zu haben. Dabei haben Christen nur zu verkünden, was der Herr der Kirche selbst gesagt hat. Freilich kann es Situationen geben, wo man mit Paulus sagen muss: „Verflucht sei, der ein anderes Evangelium predigt“ (Galater 1,8). Generell gilt, dass wir die christliche Botschaft eindeutig, aber mit Liebe – d. h. in Respekt vor dem anderen – weitersagen sollen. Und das in dem Wissen, dass nicht wir jemanden bekehren können. Dies kann immer nur der unverfügbare Heilige Geist selbst tun. Auch hier haben manche Äußerungen, Kommentare, Predigten Evangelikaler dazu beigetragen, dass andere Angst bekommen – und zwar nicht vor der Hölle (das wäre sogar legitim, sagt doch Jesus: „Fürchtet euch vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle“ (Matthäus 10,28)), sondern vor falschem evangelikalen Eifertum und ihrer Rechthaberei.

Schlimmer als Heiden?
4. Es gibt aber nicht nur Lieblosigkeit gegenüber Nichtevangelikalen, sondern oft noch viel mehr gegenüber Mitchristen aus dem „eigenen Lager“. Welch eine Fülle an Intrigen, an Häme und Streitsucht findet sich hier! Fehlt es liberalen Christen häufig am Streben nach der Wahrheit (Jesus allein ist die Wahrheit), so theologisch konservativen Protestanten am liebevollen Umgang untereinander. Beides gehört aber zusammen: Wahrheit und (!) Liebe. Wenn die theologische Wahrheit nicht respektvoll vorgebracht und fair verteidigt wird, überzeugt sie ebenso wenig wie eine beliebige Toleranz unter dem Mantel vermeintlicher Barmherzigkeit. Beim Thema Umgang miteinander geben sich manche evangelikale Kreise und Persönlichkeiten viele Blößen. Die Gnadenlosigkeit, mit der auch einzelne evangelikale Führungskräfte mit anderen umgehen, ist teilweise beispiellos. Hier ist ein merkwürdiger Zwiespalt festzustellen. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen – z. B. vorgelegt von der Konrad-Adenauer-Stiftung – sind die theologisch Konservativen auf der einen Seite die besseren Staatsbürger (sie betrügen weniger das Finanzamt, fahren weniger schwarz, sind weniger anfällig gegenüber Ideologien usw.), auf der anderen Seite pflegen sie nicht selten einen Umgang, der zu dem Schluss kommen lässt: Christen (und hier leider häufig evangelikale) sind manchmal schlimmer als Heiden. Auch das hat der Apostel Paulus schon an der Gemeinde im griechischen Korinth moniert. Deshalb müsste es aber nach 2.000 Jahren nicht immer noch so sein.

Und was nun?
Ein Fazit: Die Evangelikalen sollten auf die Angriffe gelassen, sachlich und freundlich – also überzeugend – durch Briefe, E-Mails, Telefonate und Gespräche reagieren. Und wenn die Kritik dann auch – da wo nötig – Selbstkritik hervorbringt, kann das nur dazu führen, dass die Evangelikalen noch wirkungsvoller werden. Eines ist schon jetzt zu beobachten: Die massive Kritik lässt die evangelikale Bewegung wieder mehr zusammenrücken.

Der Autor, Helmut Matthies, ist Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea e.V.